Göttinger Handwerks-Institut bestätigt Einschätzung der Handwerkskammer Erfurt10 Jahre Novellierung der Handwerksordnung
Eine Katastrophe für das Fliesenlegerhandwerk
Am 1. Januar 2004 trat die Novellierung der Handwerksordnung in Kraft. Von einst 94 Handwerksberufen blieben lediglich 41 Berufe, die seither als „zulassungspflichtige Handwerke“ zählen und in der Regel den Meisterbrief als Voraussetzung für eine Selbständigkeit in diesem Beruf haben.
53 Handwerke wurden zu sogenannten „zulassungsfreien Handwerksberufen“, in denen der Meisterbrief nicht mehr Voraussetzung für die selbständige Ausübung ist, jedoch weiterhin freiwillig abgelegt werden kann. Die Handwerkskammer Erfurt und das Volkswirtschaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen (ifh Göttingen) kommen in der Bewertung nach 10 Jahren Novellierung zum gleichen Ergebnis: Die Novelle hat im Handwerk großen Schaden angerichtet.
Ein eindrückliches Beispiel für die Konsequenzen einer verfehlten Liberalisierungspolitik ist das Fliesen-, Platten- und Mosaiklegerhandwerk. Die Zahl der Fliesen-, Platten- und Mosaiklegerbetriebe stieg im Kammerbezirk Erfurt von 226 (1.1.2004) binnen zehn Jahren auf nunmehr 1.232; eine Steigerung um 545 Prozent. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der Lehrlinge von damals 53 auf aktuell nur noch 14 ab. Immerhin acht neue Ausbildungsverträge wurden in diesem Handwerk in 2013 neu abgeschlossen.
Erfurts Handwerkskammerpräsident Stefan Lobenstein sieht den Wegfall der Meisterpflicht als Sackgasse. „Hier muss schnellstens gegengesteuert werden, sonst wird es in wenigen Jahren so gut wie keine Qualitätsbetriebe in dieser Branche mehr geben und das Know-how ist ein für alle Mal weg. Ein einst stolzer Handwerkszweig wäre damit Geschichte. Und Verbraucher, die dann verlässliche Qualität für ihre Immobilie wollen, werden lange suchen und dabei viel Glück haben müssen, bis sie einen qualifizierten Fachmann finden.“
Auch ordnungspolitisch sieht der Kammerpräsident dringenden Handlungsbedarf. Die Vielzahl der Ein-Mann-Betriebe bildet das Einfallstor für Illegalität und Schwarzarbeit am Bau und führt somit zu Schäden weit über das Fliesenlegerhandwerk hinaus. Zudem leidet das Image dieses Berufes seit der Novellierung. Dumpingpreise und geringe Löhne aufgrund der enormen Konkurrenz und kaum mehr die Bereitschaft beziehungsweise die Voraussetzungen zur Ausbildung sind verheerend für die Ausbildungssituation.
Vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Fliesenlegerhandwerk sollten nach Meinung Lobensteins die aktuellen Liberalisierungsbestrebungen der EU-Kommission bei reglementierten Berufen kritisch beurteilt werden. „An diesem Handwerk sehen wir, wie eng Ausbildung und Meisterqualifikation zusammenhängen. Das eine bekommen wir nicht ohne das andere.“
Dass die Novellierung das Handwerk als Reservoir für solide Existenzgründungen und als Nachwuchsschmiede geschwächt hat, bestätigt auch das Volkswirtschaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen (ifh Göttingen).
Laut einer jetzt veröffentlichten ifh-Studie hatte die Meisterprüfung bis 2004 als gute Qualifikation für die berufliche Selbstständigkeit für bestandsfeste Unternehmensgründungen mit einer auf fünf Jahre betrachteten Überlebensrate von rund 70 Prozent gesorgt. Der Wert gilt der Untersuchung zufolge auch bis heute annähernd fort, soweit es sich um zulassungspflichtige Handwerke (definiert nach der Anlage A der HwO) handelt, die nach wie vor auf den Meisterbrief verpflichtet sind. Bei den zulassungsfreien Handwerken (B1-Handwerke), für deren Ausübung seit 2004 keinerlei Qualifikation verlangt wird, brach jedoch die Überlebensrate seit Inkrafttreten der HwO-Novelle auf unter 50 Prozent ein. Existenzgründungen in den B1-Handwerken seien infolge der Zulassungsfreiheit nicht mehr sehr nachhaltig, stellt die Studie fest: Nach fünf Jahren seien fast 60 Prozent der Gründungen vom Markt verschwunden.
Auch die wichtige Ausbildungsfunktion des Handwerks habe durch die HwO-Reform gelitten. In den B1-Handwerken, die früher mit der obligatorischen Meisterpflicht verbundenen waren, bildeten vor der Novelle etwa 20 Prozent der Existenzgründer aus. Heute sind es nur noch drei Prozent, also nur noch gut ein Zehntel.